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Bildbeschreibung
Was ist geistige Behinderung ?
Klassifikation von geistiger Behinderung nach ICD-10
und DSM-IV
Ursachen von geistiger Behinderung
Häufigkeit des Auftretens von geistiger Behinderung
Entwicklungsverlauf bei geistig behinderten Kindern
Verhaltensstörungen bei geistiger Behinderung
Ursachen von psychischen Störungen und Verhaltensstörungen bei geistig Behinderten
Soziale Kompetenz
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Soziale Informationsverarbeitung bei Kindern
Überprüfung der sozialen  Informations- verarbeitung bei geistig behinderten Kindern
Aufmerksamkeitsverhalten bei geistig behinderten Kindern
Zusammenhang zwischen der Wahrnehmung von Emotionen und sozialer Kompetenz bei Kindern
Trainingsprogramme zur Verbesserung der sozialen Kompetenz
Literatur
pix Dr. Sven Bielski - Geistige Behinderung und soziale Kompetenz
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Soziale Informationsverarbeitung bei Kindern

Das Modell des sozialen Austausches bei Kindern von Dodge (1986) (siehe Abbildung 7) enthält fünf verschiedene Komponenten, die in einer Wechselwirkung zueinander stehen: 1) Soziale Schlüsselreize, 2) soziale Informationsverarbeitung dieser Reize, 3) das Sozialverhalten des Kindes als Konsequenz dieser Verarbeitungsprozesse, 4) Bewertung des Verhaltens durch die Gleichaltrigen (Peers) und 5) als Reaktion darauf, das Verhalten der Gleichaltrigen dem Kind gegenüber (Dodge, 1986; Leffert & Siperstein, 1996; Oerter, 1995).
Dodge geht davon aus, „...that children’s social behaviors are best understood as responses to specific situations or task" (Dodge, Mc Claskey & Feldman, 1985, S. 351). In diesem Sinne soll Punkt 1 des Modells (sozialer Reiz) als eine Situation verstanden werden, die eine soziale Aufgabe enthält. Die Beurteilung von sozialer Kompetenz erfolgt nach Dodge anhand der Bewältigung der sozialen Aufgaben. Folgerichtig definiert Dodge soziale Kompetenz über die erfolgreiche Bewältigung sozialer Aufgaben (Leffert & Siperstein, 1996; Oerter, 1995).

 

      Abbildung 7: Modell des sozialen Austausches bei Kindern von Dodge et al (aus Oerter 1995, S. 297)

Der entscheidende Punkt in diesem Modell ist die Informationsverarbeitung des Kindes (siehe Abbildung 8).
 

       
      Abbildung 8: Soziale Informationsverarbeitung des Kindes (nach Dodge, 1986, S. 84)
       
Der erste Schritt, die Kodierung, enthält die Wahrnehmung der sozialen Situation. Leffert und Siperstein (1996) benutzen in ihrer Arbeit, analog zu Dodge (1986), den Begriff ‘encoding’. Dieser wurde vom Autor der vorliegenden Arbeit als ‘Wahrnehmung der sozialen Situation’ übersetzt. Darunter soll die Richtung von selektiver Aufmerksamkeit auf die entscheidenden sozialen Schlüsselreize und ihre Erkennung und Kategorisierung verstanden werden (siehe Punkt 1.2.6).
Im zweiten Schritt wird dieser Schlüsselreiz vom Kind interpretiert. Es wird versucht, die Intentionen des Interaktionspartners zu deuten. Im dritten Schritt sucht das Kind Reaktionsmöglichkeiten auf das Verhalten des Partners. Als viertes werden dessen mögliche Gegenreaktionen auf die Reaktionsmöglichkeiten des Kindes gesammelt und bewertet. Nach dem Durchlaufen dieser vier kognitiven Prozesse erfolgt erst die Reaktion des Kindes. Es muß natürlich angemerkt werden, daß im Normalfall dieser Prozeß unbewußt und automatisiert abläuft. Erst bei sehr komplexen und schwierigen sozialen Aufgaben werden Teile dieses Prozesses bewußt durchgeführt (Dodge, 1986). Im Folgenden wollen wir uns etwas genauer mit der Informationsverarbeitung des Kindes anhand des Dodge-Modells beschäftigen.

Im oberen Teil der Abbildung 8 sind drei vom Kind in der aktuellen Situation nicht beeinflußbare Basisfaktoren des Modells dargestellt. Ein Basisfaktor sind die biologisch determinierten Kapazitäten des Kindes. Hierunter sind die biologischen Wahrnehmungsfähigkeiten des Kindes zu verstehen, also die physische Qualität der Augen, der Ohren, etc.. Unter diesen Punkt fällt auch die Intelligenzausprägung des Kindes. Unter Erfahrungsbasis des Kindes verstehen wir die im Gedächtnis abgespeicherten bisherigen Erfahrungen des Kindes. Dritte Basisvoraussetzung des Modells ist das Vorhandensein von sozialen Reizen, auf die das Kind reagieren muß.

Im Kodierungsprozeß (encoding process) spielen die Punkte Empfindung, Wahrnehmung, Aufmerksamkeit und Aufmerksamkeitslenkung die zentrale Rolle. Dodge (1991) beschreibt, daß innere Regeln (internal rules) die Zuweisung von selektiver Aufmerksamkeit steuern. Als Beispiel führt er die angeborene oder in früher Kindheit erlernte Lenkung der Aufmerksamkeit auf menschliche Gesichtsausdrücke an.
Die Wahrnehmung des sozialen Reizes ist die Grundvoraussetzung für den erfolgreichen Durchlauf der späteren Schritte. Da die Wahrnehmungskapazität eines Individuums allerdings kleiner ist als die Masse der wahrnehmbaren Reize, muß das Individuum sich auf die Wahrnehmung der wesentlichen Schlüsselreize beschränken. Hierfür ist es erforderlich, daß es Aufmerksamkeit entwickeln kann und in der Lage ist, diese auf die relevanten Reize zu richten (siehe Punkt 1.2.6). Die in der Wahrnehmungssituation vorhandenen Empfindungen und die wahrgenommenen Reize der sozialen Situation werden kodiert und im kognitiven System abgespeichert.

Im Repräsentationsprozeß gleicht das Kind die im Kodierungsprozeß gewonnen Informationen mit seinen bisher gemachten Erfahrungen ab. Falls die Informationen nicht ausreichen um diesen Abgleich durchzuführen, muß das Kind den Kodierungsprozeß noch einmal durchlaufen. Anhand des durchgeführten Abgleiches versucht das Kind, die Situation zu interpretieren. Dabei geht es nach im Laufe des Lebens aufgebauten Bearbeitungsregeln vor. Die Bearbeitungsregeln sind aus den bislang gemachten Erfahrungen erwachsen. So kann das Kind ein Wegnehmen eines Spielzeuges durch einen Gleichaltrigen als Scherz oder als Ärgern auffassen. In der Therapie von aggressiven Verhalten ist die Veränderung dieser Bearbeitungsstrategien ein zentraler Punkt (Petermann & Petermann, 1990).

Im dritten Schritt, dem Reaktionssuchprozeß, werden die vorhandenen Verhaltensmöglichkeiten gesichtet. Das Kind wendet hier wieder, wie im Punkt 2 des Modells, eine im Laufe der Jahre von ihm aufgebaute Suchstrategie an. Hierbei liegt zwangsläufig nahe, das häufig verwendete Verhaltensweisen am schnellsten in die engere Wahl gezogen werden. Asarnow & Callan (1985) zeigen in einer Untersuchung, daß Kinder, die häufig verbal aggressive Lösungen als optimale Lösungen präsentieren, besonders häufig aggressives Verhalten in ihrer realen Umwelt zeigen.

Im vierten Schritt, dem Reaktionsauswahlprozeß (Response Decision Process), werden die verschiedenen Reaktionsmöglichkeiten auf ihre Konsequenzen hin überprüft. Das Kind sucht die Möglichkeit aus, deren Konsequenzen für sich am positivsten sind. Überprüfte Konsequenzen können nach Dodge (1991) sein:

    · Werden die anderen Kinder mich nach meiner Reaktion noch mögen?
    · Erreiche ich mit meinem Verhalten, was ich erreichen will?
    · Kann ich dieser Handlung moralisch zustimmen?
Das Kind wägt ab, welche von den möglichen Konsequenzen wichtiger und welche unwichtiger sind. Es kann sich zum Beispiel die Frage stellen:
    · Ist es in dieser Situation wichtig, daß die anderen Kinder mich mögen?
Enthält keine der im Punkt 3 ausgewählten Reaktionsmöglichkeiten positive Konsequenzen für das Kind, wird die Suche nach Reaktionsmöglichkeiten noch einmal durchlaufen. Am Ende dieses vierten Schrittes fällt das Kind eine Entscheidung über die auszuführende Reaktion.

Dodge (1986) verglich ursprünglich den Ablauf dieses Prozesses mit der Arbeit eines Computers. Später revidierte er diese Sichtweise (Dodge, 1991). Er schreibt: „I propose that all information processing is emotional, in that emotion is the energy level that drives, organizes, amplifies, and attenuates cognitive activity and in turns is the experience and expression of this activity." (S. 159).

Döpfner entwickelte eine Jahre später in Deutschland eine mit dem Dodge-Modell nahezu deckungsgleiche Theorie (vgl. Döpfner,1989; Döpfner, Lorch & Reihl, 1989).

Dodge und Feldman (1990) stellen fest, daß ein Zusammenhang zwischen dem sozialen Status des Kindes und seiner sozialen Kognition besteht. Unpopuläre Kinder besitzen danach eine geringere Reizdifferenzierungsfähigkeit. Sie zeigen bei persönlichen Problemen verstärkt interne Attributionen. Sie generieren mehr inkompetente Verhaltensantworten. Besonders häufig werden von ihnen auch aggressive Verhaltensantworten generiert. Nach Dodge und Feldman (ebd.) zeigen sich aber wenig Hinweise auf eine generell niedrigere Intelligenz oder schlechtere Informationsverarbeitung bei unpopulären Kindern. Sie schreiben:
„Little evidence has accumulated that low-status children have general intellectual or processing deficits; their deficits and processing biases appear to be specific to particular situations, especially situations that are potentially stressful or threatening and are relevant to social functioning for their particular age and sex subculture group" (S. 150).

Bezieht man das Dodge-Modell auf geistig behinderte Kinder, liegt der Schluß nahe, daß diese zwangsläufig schlechteres Sozialverhalten als nicht geistig behinderte Kinder zeigen müssen. Die biologisch determinierten Kapazitäten dieser Kinder sind aufgrund der Retardierung erheblich kleiner. Dieses trifft vor allem auf die Intelligenzausprägung zu. Es führt dazu, daß geistig behinderte Kinder zwangsläufig schlechtere Bearbeitungsstrategien, die in den Schritten zwei und drei des Modells benötigt werden, entwickeln müssen. Weiterhin ist die verfügbare Erfahrungsbasis aufgrund von Problemen mit der Abspeicherung von Erfahrungen im kognitiven System und Problemen mit dem Zugriff auf die abgespeicherten bisher gemachten Erfahrungen (Suchstrategien) erheblich kleiner.
Da mit dem Grad der geistigen Behinderung auch die Zusatzbehinderungen zunehmen, ist davon auszugehen, daß ein nicht unerheblicher Teil dieser Menschen auch erheblich schlechtere physische Wahrnehmungsfähigkeiten besitzt.
Zusätzlich haben viele geistig behinderte Kinder, aufgrund ihrer Lebensbedingungen, erheblich schlechtere Möglichkeiten, eine ausreichende Erfahrungsbasis aufzubauen. Weiterhin gilt zu vermuten, daß geistig behinderte Kinder, im Verhältnis zu nicht geistig behinderten Kindern, erheblich häufiger einen schlechten sozialen Status besitzen.