Verhaltensstörungen
bei geistig behinderten Menschen
Grundsätzlich besteht bei geistig
behinderten Menschen die Schwierigkeit „...aus dem Gesamtbild der Beeinträchtigungen
(...) die Verhaltensstörung als Sonderform auszugrenzen" (Petermann,
Bandemer & Mayer, 1987, S. 141). Aufgrund ungünstiger Erziehungsstile,
wie Überbehütung und zu starke Verwöhnung, allerdings auch
durch emotionale Ablehnung des behinderten Kindes werden jedoch häufig
charakteristische Verhaltensstörungen hervorgerufen. Petermann et
al. (ebd.) ordnen diese in den großen Bereich der aggressiven und
unsicheren Verhaltensweisen ein.
Sigafoos (1995) gibt an, daß
aggressives Verhalten von 11-33% der Menschen mit intellektueller Beeinträchtigung
gezeigt wird. Er gibt weiter an, daß aggressives Verhalten häufiger
bei in Heimen untergebrachten geistig Behinderten zu beobachten ist. Lund
(1989) zeigt auf, daß bei 17.2% einer Stichprobe von 302 erwachsenen
geistig Behinderten eine Verhaltensstörung diagnostiziert wurde. Bei
41% dieser Stichprobe konnten Formen abweichenden Verhaltens festgestellt
werden. Meins und Süßmann (1993) zeigen, daß stärker
geistig Behinderte häufiger Verhaltensstörungen aufweisen als
leichter geistig Behinderte. Bei einer Untersuchung geistig behinderter
Erwachsener (n=119) wurden bei 61% der Fälle mit der Einstufung des
Behinderungsgrades profound/severe Verhaltensstörungen diagnostiziert,
bei Behinderten mit der Einstufung moderate in 36% der Fälle und bei
Behinderten mit der Einstufung mild in 14% der Fälle. Aggressives
Verhalten diagnostizierten Meins und Süßmann (ebd.) bei Behinderten
mit der Einstufung profound/severe in 41%, bei Behinderten mit der Einstufung
moderate in 21% und bei Behinderten mit der Einstufung mild in 10% aller
Fälle.
Soziale Kompetenz ist einer der zentralen
Begriffe für die Entwicklung eines Individuums, der über die
ganze Lebenspanne seine Bedeutung behält (Leffert & Siperstein,
1996). Eine Definition des Begriffes ‘Soziale Kompetenz’ zu geben wird
erschwert durch den Umstand, daß „...er nicht nur vom Individuum
her, sondern von sozialen Anforderungen und Situationsmerkmalen her bestimmt
werden muß" (Zimmer, 1978a, S. 473). Im Gegensatz zu Begriffen
wie seelische Gesundheit und Krankheit, besitzt der Begriff der sozialen
Kompetenz nicht nur eine Beziehung zum Funktionieren des Individuums, sondern
parallel dazu auch eine Beziehung zu den situativen Anforderungen (Zimmer,
1978b). In unterschiedlichen Kulturkreisen, aber auch in unterschiedlichen
Milieus innerhalb eines Kulturkreises, können bei vergleichbaren situativen
Anforderungen differierende Verhaltensweisen vom Individuum erwartet werden.
D. h., daß das Verhalten, das innerhalb eines Milieus die Person
als sozial kompetent darstellt, innerhalb eines anderen Milieus, bei vergleichbaren
situativen Anforderungen, als sozial inkompetent angesehen werden kann.
Eine genaue Festlegung von Verhaltensweisen, die in bestimmten sozialen
Situationen als sozial kompetent angesehen werden können, kann es
deshalb nicht geben.
Definitionen
des Begriffes ‘Soziale Kompetenz’
Hinsch und Pfingsten (1983) definieren
soziale Kompetenz „...als die Verfügbarkeit und Anwendung von kognitiven,
emotionalen und motorischen Verhaltensweisen, die in bestimmten sozialen
Situationen zu einem langfristig günstigen Verhältnis von positiven
und negativen Konsequenzen führen" (S. 6). Von Sommer wird soziale
Kompetenz „...als die Verfügbarkeit und angemessene Anwendung von
Verhaltensweisen (motorischen, kognitiven und emotionalen) zur effektiven
Auseinandersetzung mit konkreten Lebenssituationen, die für das Individuum
und/oder seine Umwelt relevant sind" (Sommer, 1977, zit. nach Holtz, 1994,
S. 123) definiert. Sommer bezeichnet ein Verhalten dann als effektiv, „...wenn
es dem Individuum kurz- und langfristig ein Maximum an positiven und ein
Minimum an negativen Konsequenzen bringt, gleichzeitig für die soziale
Umwelt und Gesellschaft kurz- und langfristig zumindest nicht negativ,
möglichst aber auch positiv ist" (Sommer,1977, zit. nach Holtz,
1994, S. 121). Was positiv für die Umwelt und Gesellschaft ist, ist
wissenschaftlich allerdings nicht exakt zu bestimmen und damit abhängig
von individuellen Wertvorstellungen.
Hubbard und Coie (1995) geben einen
Überblick über die Entwicklung der Definitionen von sozialer
Kompetenz. Sie beschreiben, daß soziale Kompetenz anfänglich
ausschließlich über das Sozialverhalten definiert wurde. Diese
Phase der Definition von sozialer Kompetenz erreichte ihren Höhepunkt
in den siebziger Jahren. Diskutiert wurden in dieser Zeit u.a. Rollenübernahmefähigkeit,
Perspektivenübernahme und Problemlösungsstrategien ( vgl. Affleck,
1975; Bender & Carlson, 1982; Devries, 1970). In einer zweiten Phase
wurde soziale Kompetenz über das Erreichen von sozialen Zielen definiert
(vgl. Dodge, 1986).
Hubbard und Coie (1995.) schlagen
vor, soziale Kompetenz bei Kindern folgendermaßen zu definieren:
„Our choice is to define social competence as being well-liked by peers"(S.3).
Ihrer Ansicht nach ist diese Definition, im Gegensatz zu den vorhergegangenen,
gut operationalisierbar und quantifizierbar. Als zweite Möglichkeit,
soziale Kompetenz bei Kindern zu definieren, geben sie die Einflußnahme
des Kindes auf andere gleichaltrige Kinder an. Coie, Dodge und Coppotelli
(1982) stellten in einer Studie allerdings fest, daß die beliebtesten
Kinder auch den größten Einfluß besaßen. Je jünger
die Kinder sind, desto größer ist die Korrelation zwischen Beliebtheitsgrad
des Kindes und sozialem Einfluß.
Holtz, Eberle, Hillig und Marker
(1982) beziehen den Begriff der sozialen Kompetenz auf die Gruppe der geistig
Behinderten und sprechen von allgemeiner oder ökologischer Kompetenz.
Sie meinen damit die Verhaltensmuster, „...die den Verhaltensspielraum
eines Individuums unter durchschnittlichen Umweltbedingungen erweitern,
die Abhängigkeit von besonderen Versorgungsmaßnahmen verringern
und eine dauernde Heimunterbringung unwahrscheinlich machen" (S. 102).
Sie beziehen sich auf die Definition ‘mental retardation’ der AAMR (vgl.
Punkt 1.1.2), da „...sich das Konstrukt des adaptiven Verhaltens etwa
mit unserer Auffassung »sozialer Kompetenz« deckt" (Holtz,
et al., 1982, S. 99).
Modell der generellen Kompetenz
Generelle Kompetenz setzt sich nach
Greenspan und Gransfield (1992) aus instrumenteller und sozialer Kompetenz
zusammen (vgl. Abbildung 3).
Instrumentelle Kompetenzen sind hier
in etwa analog zu den intellektuellen Fähigkeiten der Definition der
AAMD zu verstehen, soziale Kompetenzen annähernd analog zu den adaptiven
Fähigkeiten.
In der Praxis werden instrumentelle
oder soziale Kompetenzen selten alleine angewendet, da zur Bewältigung
alltäglicher Anforderungen sowohl instrumentelle, als auch soziale
Kompetenzen gleichermaßen benötigt werden.
Im Modell von Greenspan und Gransfield
(1992) greifen instrumentelle und soziale Kompetenzen auf intellektuelle
und nichtintellektuelle Aspekte zurück. Diese Aspekte sind wiederum
Teile der jeweiligen Kompetenzen. Greenspan und Gransfield (ebd.) differenzieren
drei verschiedenen Arten von Intelligenz, konzeptuelle, praktische und
soziale. Konzeptuelle Intelligenz ist als ‘wissenschaftliches’ und analysierendes
Denken zu verstehen. Sie bildet zusammen mit der Komponente Informationsverarbeitung
den intellektuellen Aspekt der instrumentellen Kompetenz. Der nichtintellektuelle
Aspekt der instrumentellen Kompetenz besteht aus dem körperlichen
Zustand der Person und dem Verfügen über motorische Fähigkeiten,
die es dem Individuum erst ermöglichen verbal oder nonverbal zu interagieren.
Praktische und soziale Intelligenz bilden den intellektuellen Aspekt der
sozialen Kompetenz. Praktische Intelligenz wird von Greenspan und Gransfield
(ebd.) als „...‘activities of daily living’..." (S. 449) verstanden.
Soziale Intelligenz „...refers to a person’s ability to understand and
to deal effectively with social and interpersonal objects and events. Included
in this construct are such variables as role-taking, empathic judgement,
person perception, moral judgement, referential communication, and interpersonal
tactics" (S. 449). In ihrem Begriff von sozialer Intelligenz sind also
kognitive Elemente, wie die Personenwahrnehmung, und Elemente, die auf
der Verhaltensebene und der kognitiven Ebene anzusiedeln sind, wie die
Rollenübernahme, enthalten. Sie behaupten, daß geistig Behinderte,
selbst wenn sie augenscheinlich keine Defizite im adaptiven Verhalten zeigen,
eine niedrige soziale Intelligenz aufweisen. Deshalb schlagen sie vor,
den Begriff des adaptiven Verhaltens in der Definition der AAMD (siehe
Punkt 1.1.2) durch den der sozialen Intelligenz zu ersetzen.
Der nichtintellektuelle Aspekt
der sozialen Kompetenz besteht aus den Persönlichkeitsmerkmalen Temperament
und Charakter. Über diese Variablen können nach Greenspan und
Gransfield (1992) eventuell vorhandene psychopathologische Defekte des
geistig behinderten Menschen beschrieben werden. Greenspan and Gransfield
gehen davon aus, daß die soziale Inkompetenz des geistig behinderten
Menschen in der Regel nicht auf psychopathologische Ursachen zurückzuführen
ist (vgl. David & Neukäter, 1995). Zusammengefaßt ist geistige
Behinderung ihrer Ansicht nach durch eine niedrige generelle Kompetenz
gekennzeichnet.
Konzeptuelle Intelligenz und soziale
Intelligenz aus diesem Modell, weisen Parallelen zur kognitiven bzw. sozialen
Kompetenz des Heidelberger-Kompetenz-Inventars auf. In Punkt 2.2.2 werden
wir hierauf genauer zu sprechen kommen.
Taxonomie sozialer Kompetenzen
In seiner Dissertation stellt Holtz
(1994) eine Taxonomie sozialer Kompetenzen von Ford aus dem Jahre 1985
vor (siehe Tabelle 7). Diese besteht aus dem „...Ausbalancieren von
»Selbstbehauptung« und »Integration« (...). Die
Bereiche entsprechen den unterschiedlichen Funktionen, die einem umfassenden
Kompetenzbegriff zukommen: Identität zu entwickeln und zu erhalten,
ferner die Kontrolle eigener Lebensbedingungen, soziale Vergleichsprozesse
(Wettbewerb) vorzunehmen sowie den Umgang mit eigenen und fremden Ressourcen"
(Holtz, 1994, S. 143).
Tabelle 5: Taxonomie sebstbehauptender
und integrativer Aspekte der Kompetenz von Ford (aus Holtz 1994, S.142)
Diese Taxonomie von Ford macht deutlich,
daß soziale Kompetenz mehr ist als angepaßtes Verhalten. Soziale
Kompetenz besteht vielmehr aus beiden Seiten, Integration (Anpassung an
soziale Gruppen) und Autonomie (selbstbehauptende Fertigkeiten). Zimmer
(1978b) beschreibt deshalb sozial kompetentes Verhalten als gelungenen
Kompromiß zwischen Selbstverwirklichung und sozialer Anpassung.
Holtz (1994) merkt an, daß
„...Kompetenzen auf einer Altersstufe sich als inkompetentes Verhalten
auf einer anderen Altersstufe (im Sinne einer möglichst günstigen
Entwicklung) erweisen können. Taxonomien von Kompetenzen sollten von
daher stets Taxonomien von Entwicklungsaufgaben sein..." (S.143). Zur
Verdeutlichung soll hier angeführt werden, daß ein Säugling,
der schreit, um seine Bedürfnisse nach Nahrung oder Zuwendung zu äußern,
kompetentes Verhalten zeigt, während das gleiche Verhalten bei einem
älteren Kind als inkompetent aufgefaßt werden kann.
Motiv- und Handlungsvoraussetzung
sozial kompetenten Verhaltens
Petermann und Petermann (1989) definieren
zwei Voraussetzungen für sozial kompetentes Verhalten:
1. Frei sein von sozialer Angst
2. Verfügbarkeit über
soziale Fertigkeiten.
Bei Personen, die unter sozialer Angst
(vgl. Abbildung 4) leiden, steigt, in Analogie zum normalen Angstbegriff,
das Erregungsniveau an (Petermann, 1992). Die betroffene Person versucht
deshalb, den Aufenthalt in Situationen zu vermeiden, bei denen ihr fremde
Personen anwesend sind. Das Nichtvorhandensein von sozialer Angst wird
von Petermann und Petermann (1989) als Motivvoraussetzung beschrieben.
Diese macht es einem Menschen überhaupt erst möglich, eigenständig
mit ihm fremden Personen ‘normale’ Kommunikation aufzunehmen. Verantwortlich
für das Nichtvorhandensein von sozialer Angst ist ein positives Selbstkonzept.
Das Selbstkonzept stellt die kognitive
oder innere Repräsentation der eigenen Person dar (Petermann &
Petermann, 1989 ; Holtz, 1994). Aus einem positiven Selbstkonzept entsteht
nach Abbildung 4 Selbstvertrauen, daß wiederum eine Voraussetzung
für Selbstsicherheit ist.
Das Verfügen über soziale
Fertigkeiten wird von Petermann und Petermann (1989) als Handlungsvoraussetzung
(vgl. Abbildung 5) bezeichnet. Diese entstehe (ebd.) aus der Wahrnehmungs-
und Rollenübernahmefähigkeit.
Bei der Wahrnehmungs- und Rollenübernahmefähigkeit
werden verschiedene Dimensionen miteinander verknüpft. Es ist erforderlich,
über biologisch determinierte Fähigkeiten (physische Wahrnehmungsfähigkeiten)
und selektive Wahrnehmung zu verfügen (vgl. Dodge, 1986), und es muß
die Fähigkeit vorhanden sein, das Wahrgenommene mit im kognitiven
System verankerten Schemata abzugleichen und daraufhin zu interpretieren.
Die Fähigkeit, eine Rolle übernehmen zu können, ist weiterhin
eng verbunden mit der Fähigkeit der Perspektivenübernahme. Zusätzlich
ist ein Verhaltensrepertoire erforderlich, daß es ermöglicht,
die Rolle adäquat auszufüllen.
Zur Interaktionsfähigkeit
gehört, die Konsequenzen des eigenen Handelns beim Interaktionspartner
abschätzen zu können. Um dieses zu bewerkstelligen, ist es wiederum
notwendig, sich in die Perspektive des Interaktionspartners zu versetzen.
Nach Petermann und Petermann (1989) entsteht die Selbstbehauptungsfähigkeit
aus der Interaktionsfähigkeit. Zur Selbstbehauptungsfähigkeit
gehört die Fähigkeit nein zu sagen, Wünsche zu äußern,
Forderungen zu stellen etc.
Soziale Angst und soziale Fertigkeiten
und damit Motiv- und Handlungsvoraussetzung, stehen in einem reziproken
Verhältnis zueinander. Beim Vorhandensein von sozialer Angst kann
es trotz vorhandener sozialer Fertigkeiten zur Nichtanwendung von diesen
kommen, da soziale Angst, wie bereits oben beschrieben, zu einem Vermeidungsverhalten
führt. Das Vermeidungsverhalten hat wiederum zur Folge, daß
die sozialen Fertigkeiten nicht weiterentwickelt werden können. Schwach
ausgeprägte soziale Fertigkeiten führen zu Mißerfolgen
bei sozialen Interaktionen und begünstigen wiederum das Entstehen
und die Vergrößerung der sozialen Angst.
Psychologische Trainingsprogramme zur
Verbesserung der sozialen Kompetenz sollten nach den beschriebenen Mechanismen
von Abbildung 4 und Abbildung 5 diese zwei Hauptelement enthalten:
· Elemente zur Verbesserung
des Selbstkonzeptes
· Elemente zur Förderung
der sozialen Wahrnehmung und des Rollenverhaltens.
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