Deutsche Definitionen von geistiger Behinderung
Nach einer Definition des deutschen Bildungsrates (1974)
gilt als geistig behindert,
„...wer infolge einer organisch-genetischen oder anderweitigen
Schädigung in seiner psychischen Gesamtentwicklung und seiner Lernfähigkeit
so sehr beeinträchtigt ist, daß er voraussichtlich lebenslanger
sozialer und pädagogischer Hilfen bedarf. Mit den kognitiven Beeinträchtigungen
gehen solche der sprachlichen, sozialen, emotionalen und der motorischen
Entwicklung einher. Die Ergebnisse von validen Intelligenztests, motorischen
Tests und Sozialreifeskalen können Orientierungsdaten für die
Abgrenzung der geistigen Behinderung zur Lernbehinderung liefern. Die Grenze
wird in der Regel bei drei Standardabweichungen unterhalb des Mittelwertes
zu ziehen sein" (S.37).
Die Standardabweichung beträgt nach empirischen Untersuchungen
mit dem Stanford-Binet-Test für alle Altersstufen zusammengefaßt
16 (Wendeler, 1988). Da nach der Definition des deutschen Bildungsrates
zur Diagnosenstellung einer geistigen Behinderung eine Differenz von drei
Standardabweichungen notwendig ist, wird von geistiger Behinderung ab einem
IQ von 52 ausgegangen.
Es werden drei verschiedene Ausprägungen von geistiger
Behinderung differenziert (vgl. Tabelle 1):
Tabelle 1: Grade geistiger Behinderung (nach
Wendeler, 1993, S. 12)
Behinderungsgrad
|
IQ-Bereich
|
Häufigkeit der Behinderungsgrade
|
mäßig
|
36 - 52
|
58%
|
schwer
|
20 - 35
|
33%
|
sehr schwer
|
< 20
|
9%
|
Nach Bach (1974) liegt
geistige Behinderung dann vor, „ ...wenn geringe Intelligenz (IQ <60±5)
im Verhältnis zur lebensaltersgemäßen Durchschnittserwartung
im Sinne eines dauernden Vorherrschens anschaulich-vollziehenden Lernens
trotz optimaler Erziehungsbemühungen unter Berücksichtigung eventuell
vorhandener sensorieller oder motorischer Beeinträchtigungen des Lernens
festzustellen ist" (S. 19).
Nach Büttner (1984) liegen
, „...nach der in der Bundesrepublik Deutschland gebräuchlichen
schulorganisatorischen Einteilung (...) die IQ Werte bei Lernbehinderung
etwa zwischen 85 und 70 (...), bei geistiger Behinderung unter 70"
(S. 123).
Anhand der verschiedenen Definitionen
ist erkennbar, daß in Deutschland kein allgemein anerkannter IQ-Grenzwert
für die Diagnose einer geistigen Behinderung existiert.
Nach Wendeler (1993) wird der Begriff
der geistigen Behinderung durch ein Doppelkriterium definiert. Es liegt
schwache soziale Kompetenz in Verbindung mit niedriger Intelligenz vor.
Diese Sichtweise, die auch von anderen Autoren vertreten wird, wurde hauptsächlich
durch die entsprechende Definition der American Association on Mental Deficiency
(AAMD, die American Association on Mental Deficiency hat sich in den achtziger
Jahren umbenannt in American Association on Mental Retardation, AAMR )
ausgelöst (Holtz, 1994).
Mental Retardation
Die Definition des Begriffes ‘Mental Retardation’ der AAMD
aus dem Jahre 1973 lautet folgendermaßen:
„Mental Retardation refers to significantly subaverage
general intellectual functioning existing concurrently with deficits in
adaptive behaviour , and manifested during a developmental period"
(zit. nach Baumeister & Muma, 1975, S. 295).
Die AAMD Empfehlung enthält also drei Kriterien:
a) Unterdurchschnittliche Intelligenz.
b) Defizite im adaptiven Verhalten, wobei adaptives Verhalten
folgendermaßen definiert wird: „...the ability to live independently
and the ability to abide by community standards of acceptable behaviour"
(Greenspan & Gransfield, 1992, S. 445).
c) Das gemeinsame Auftreten von a) und b) innerhalb der
Entwicklungsperiode.
Lempp (1991) berichtet, daß auch die klassische Einteilung
des Schwachsinns sich nach sozialen Kriterien richtete. „Debil war derjenige,
der in eingeschränkter Weise für sich selbst sorgen konnte, imbezill
derjenige, der sich zwar selbst noch pflegen, aber sonst nicht für
sich sorgen konnte und idiotisch war derjenige geistig Behinderte, der
einer ständigen Pflege bedurfte" (S.110). Greenspan und Gransfield
(1992) verweisen ähnlich wie Lempp darauf, daß in den Vereinigten
Staaten im 19. Jahrhundert derjenige als geistig behindert galt, der starke
Defizite im adaptiven Verhalten aufwies. Mit Beginn der psychometrischen
Forschung wurde geistige Behinderung zunächst nur nach IQ-Werten bestimmt.
Das adaptive Verhalten wurde in die Definition der AAMD erst in den sechziger
Jahren unseres Jahrhunderts wieder aufgenommen.
Die Definition der AAMR aus dem Jahre 1992 lautet folgendermaßen:
„Mental retardation refers to substantial limitations
in present functioning. It is characterized by significantly subaverage
intellectual functioning, existing concurrently with related limitations
in two or more of the following applicable adaptive skill areas: communication,
self-care, home living, social skills, community use, self-direction, health
and safety, functional academics, leisure, and work. Mental retardation
manifest before age 18" (Luckasson et al., 1992, S. 1).
Diese Definition ist im Verhältnis zur vorhergegangenen
konkreter, da beim Kind in mindestens zwei der aufgeführten Bereiche
des adaptiven Verhaltens Defizite vorhanden sein müssen, um die Diagnose
‘Geistige Behinderung’ stellen zu können.
Der amerikanische Begriff ‘mental retardation’ ist auch
in einem anderen Punkt abweichend vom deutschen Terminus ‘Geistige Behinderung’.
Im amerikanischen Begriff werden Lernbehinderungen unter der Bezeichnung
‘mild mental retardation’ mit einbezogen (Lotz & Koch, 1994; Wendeler,
1993). Nach der Definition der AAMD aus dem Jahre 1977 werden vier verschiedene
Grade der geistigen Behinderung differenziert (vgl. Tabelle 2):
Tabelle 2: Einteilung der Behinderungsgrade
nach der Definition der AAMD (nach Grossman, 1977, S. 19).
Behinderungsgrade |
Intelligenzquotient
nach Stanford-Binet |
Intelligenzquotient
nach Wechsler |
Mild |
67-52 |
69-55 |
Moderate |
51-36 |
54-40 |
Severe |
35-20 |
39-25 |
Profound |
unter 19 |
unter 24 |
Nach der 92er Definition ist die obere IQ-Grenze zur
Diagnose einer geistigen Behinderung auf 70-75 IQ-Punkte angehoben worden
(Luckasson et al., 1992).
Das Diagnosesystem der AAMR aus dem Jahre 1992 basiert
auf einem multidimensionalen Modell, daß aus vier Dimensionen besteht:
1. Dimension: Intelligenzniveau und adaptives Verhalten
2. Dimension: Psychologische/Emotionale Umstände
3. Dimension: Physische/Gesundheitliche/Ätiologische
Umstände
4. Dimension: Soziale Umgebung des Kindes.
Der Diagnoseprozeß wird in drei Schritten durchgeführt:
1. Schritt: Diagnose einer geistigen Behinderung (Dimension
1)
2. Schritt: Klassifikation und Beschreibung (Beschreibung
der Stärken und Schwächen in den Dimensionen 2,3,4)
3. Schritt: Art und Intensität der benötigten
Hilfe (in allen vier Dimensionen).
Die Diagnosenstellung wird mit einem standardisierten Diagnosebogen
durchgeführt, um eine einheitliche Durchführung der drei Diagnoseschritte
zu gewährleisten (vgl. Luckasson et al., 1992). Der dritte Schritt
des Diagnoseprozesses ‘Art und Intensität der benötigten Hilfe’
ersetzt die Einteilung nach Behinderungsgraden der vorhergegangenen Klassifikationssysteme
der AAMR. Die ‘Art und Intensität der benötigten Hilfe’ wird
folgendermaßen differenziert:
a) Intermittent (zeitweise)
b) Limited (begrenzt)
c) Extensive (ausgedehnt)
d) Pervasive (allumfassend)
Nach Eggert (1993) setzt sich die Ansicht langsam durch,
daß man anhand von Intelligenzquotienten keine sinnvollen Untergruppen
von Menschen mit geistiger Behinderung bilden könne. Er sieht einen
Wandel von der Beschreibung von typologischen Gruppenmerkmalen hin zum
Aufbau individualisierter Erziehungspläne. Diese Einschätzung
Eggerts deckt sich mit der Klassifizierung nach ‘Art und Intensität
der benötigten Hilfe’ durch die AAMR.
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